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Trügerische Ruhe

Weniger Ankünfte von Geflüchteten in Sizilien sind ein Grund zur Sorge

Ende August 2017. Sizilien atmet kollektiv auf: Seit über zwei Wochen gab es in den Häfen von Pozzallo und Catania auf Sizilien keine Ankünfte von Geflüchteten mehr1. Nachdem von Januar bis Ende Juli 2017 mehr 93.000 Menschen über das Mittelmeer nach Italien flüchteten, gehen auf einmal keine Notrufe mehr in der römischen Leitzentrale der Seenotrettung ein. Die direkt in den Häfen gelegenen Registrierungszentren, so genannte Hot-Spots, bleiben leer. Keine neuen Asylgesuche werden eingereicht. Und das obwohl für diesen Sommer besonders viele davon erwartet wurden.

Ende August 2017: Seit zwei Wochen kamen keine Geflüchteten mehr auf Sizilien an.

Schein und Wirklichkeit

Als wir vor Ort sind, bestätigt sich der Eindruck, dass sich die Situation gerade grundlegend zu wandeln scheint. HelferInnen wie Santos vom Roten Kreuz in Catania und AnwohnerInnen wie der Fotograf Antonio aus Pozzallo erzählen uns von mehr Ordnung bei den Ankünften und einer Ruhephase seit Anfang August. Die Hot-Spots, untergebracht in kleinen Hallen und Containern, liegen einsam in der gleißenden Sonne. Im Hot-Spot in Pozzallo zum Beispiel sehen wir nur einige wenige Jugendliche, die in dem umzäunten, abgeschirmten Innenhof des Containerbaus Fußball spielen. Noch vor wenigen Monaten lachten und tanzten hier hunderte von Menschen – aufgeregt und erleichtert darüber, dass sie den sicheren Hafen Europa lebend erreicht hatten. Sie werden meist eines Besseren belehrt, wenn sie monatelang in isolierten Aufnahmezentren auf ihren Bescheid warten.

„This is not good“

Das Team von Projekt Seehilfe spricht mit Simona und Carla von ARCI

Die vermeintlich plötzliche Ruhe aber erscheint uns ebenso trügerisch. Simona, die Rechtsberatung für Geflüchtete bei ARCI (Associazione Ricreativa e Culturale Italiana) in Siracusa leistet, sagt uns: „It is not an emergency situation here anymore. And this is not good”. 2 Sie befürchtet, dass schlicht noch mehr Menschen die für sie notwendige Hilfe verweigert wird. Die, die bereits in den Sackgassen des europäischen Asylsystems stecken, finden sich nun in Italien ohne Job, Papiere und Perspektive wieder.

Oftmals werden sie bereits im Hot-Spot abgewiesen und dürfen erst gar keinen Antrag auf Asyl oder subsidiären Schutz stellen. Tatsächlich wurde das Hot-Spot-System gerade mit dieser Absicht entwickelt: „Vor-Sortierungen“ sollen verhindern, dass Menschen ohne Chance auf Asyl dennoch einen Antrag stellen und behördliche Arbeit verursachen. Armut, Perspektivlosigkeit und der Wunsch nach einem Leben in Europa gelten nicht als ausreichende Gründe für die Migration. Das stark generalisierende System führt außerdem dazu, dass Menschen aufgrund ihrer „sicheren“ Herkunft pauschal und ohne Prüfung der Fluchtursachen abgelehnt werden. So berichten Geflüchtete immer wieder von Massenbefragungen oder Ablehnungen aufgrund der Nationalität. Es lässt sich nur mutmaßen, dass hier viele Menschen, die selbst unter geltendem Recht Anspruch auf Asyl hätten, durch die Raster fallen. Der Zutritt zu den Hot-Spots bleibt sowohl uns als auch der Presse verwehrt.

“Plötzlich” Ruhe?

Legale Migrationswege sind derweil Mangelware; insbesondere für Nicht-AkademikerInnen. Die sinkenden Ankünfte bedeuten zwar, dass HelferInnen etwas mehr – aber lange nicht genug – Zeit und Ressourcen für sie haben. Das erhöht die Chancen auf Papier und den Zugang zum Arbeitsmarkt aber kaum. Weniger Ankünfte bedeuten auch weniger Aufmerksamkeit. Weniger Notstand bedeutet auch weniger Handlungsdruck für die Politik. Nun erscheint es weniger überraschen, dass Simona eher besorgt denn erleichtert ist, wenn der Notstand ein Ende hat.

Die anderen, die es noch nicht nach Italien geschafft haben, stecken oft in Libyens „detention centres“3 z.Dt. Auffanglager fest. Die Lager also, in die MigrantInnen kommen, wenn sie im libyschen Territorium aufgegriffen werden. Die meisten sind quer durch (Nord-)Afrika, oft auch aus Syrien, Afghanistan oder Bangladesh bis nach Libyen geflohen. Von der libyschen Küste aus besteht derzeit die einzige Möglichkeit über den Seeweg nach Europa zu gelangen. Die Zustände in den „Auffanglagern“ des Bürgerkriegslandes Libyen aber sind selbst eine Fluchtursache. Auch deshalb wagten in den vergangenen Jahren so viele Menschen sehenden Auges die lebensgefährliche Überfahrt. Der Geschäftsführer von ProAsyl, Günter Burkhardt, stellt in der ZEIT klar: “Es wird in nordafrikanischen Lagern keine rechtsstaatliche, individuelle und faire Prüfung von Asylanträgen nach europäischem Recht geben”. Wenn es nicht die verbesserte Lage in Libyen sein kann – wie lässt sich die plötzliche „Ruhe“ auf dem Mittelmeer erklären?

Blockade auf Zeit?

KommentatorInnen von AlJazeera, von Reuters, bei der Huffingtonpost und der SZ etwa sehen einen Zusammenhang zwischen den rückläufigen Zahlen und dem Auftauchen einer paramilitärischen Organisation namens Brigade 48. Die internationale Presseagentur Reuters schreibt zu letzterer: „The group [Brigade 48, CZ] is made up of several hundred ‘civilians, policemen, army figures,’ he [die libysche Quelle, CZ] said. It is conducting a ‘very strong campaign’ that was launched by a ‘former mafia boss’, said a second Sabratha source who follows smuggling activity closely“. 4z.Dt. “Die Gruppe Brigade 48 CZ besteht aus mehreren hunderten Zivilisten, Polizisten, Militärs,’ sagte er [die libysche Quelle, CZ]. Sie führt derzeit eine ‘einflussreiche Operation’ durch, die von einem ‘früheren Mafia Boss’ ausgeht, sagte eine zweite Sabratha-Quelle, die das Schleppergeschäft gut kennt”  Quelle: https://www.reuters.com/article/us-europe-migrants-libya-italy-exclusive-idUSKCN1B11XC

Hinzu kommen die verschärften Patrouillen vor der libyschen Küste. Diese werden von Italien und der EU-Mission European Union Integrated Border Management Assistance Mission in Libya mitfinanziert. Seit Anfang Februar werden Befugnisse und Budget aufgestockt, wie uns Lucia Borghi von Borderline Sicilia im Gespräch berichtet. Auch die kürzliche Ausweitung libyscher Gewässer über die 12-Meilen-Grenze hinaus macht Überfahrten derzeit quasi unmöglich. All dies sind aber Mutmaßungen. Die genauen Gründe lassen sich kaum verbindlich feststellen, weil im Bürgerkriegsland Libyen der Überblick längst abhanden gekommen ist.

‘Ammassati’ in Libyen

Imam Abdelhafid bietet Geflüchteten aller Konfessionen ein Dach über dem Kopf in seiner Moschee. Unterstützung kann er immer gebrauchen.

Derweil halten die Aktiven in der italienischen Flüchtlingshilfe die Luft an, weil sie Schlimmes befürchten. Der Imam von Catania, Kheit Abdelhafid, ist einer von ihnen. Seit 2014 hilft er den Neuankömmlingen unabhängig von ihrer Konfession mit Erstversorgung und Schlafräumen. Allzu oft berichteten sie von Folter, Missbrauch, Erpressung, Unterversorgung und Vergewaltigungen, die sie aufs Mittelmeer getrieben hätten, erzählt er.

Angesichts der momentan sinkenden Zahl an Schutzgesuchen runzelt Imam Abdelhafid die Stirn. Mit Verweis auf die IOM (International Organisation for Migration) vermutet er, dass derzeit mindestens 1 Million geflüchteter Menschen vornehmlich aus den Ländern Westafrikas in libyschen Lagern festgehalten würden: ‘ammassati’ sagt man auf Italienisch – „angehäuft, eingelagert“. Doch die Blockade wird angesichts der Zustände nicht ewig halten. Gefährlichere Routen würden bald entstehen, glaubt er. Sobald dies geschähe, so des Imams Sorge, würden mehr Menschen denn je in einem untragbaren gesundheitlichen und psychischen Zustand auf dem Mittelmeer um Rettung ringen. Egal mit welchen unserer PartnerInnen und InformantInnen wir sprechen: Sie geben ihm Recht.

Was passiert nun?

Imam Abdelhafid und Organisationen wie das Centro Astalli (eine Tagesanlaufstelle für obdachlose Geflüchtete) nutzen die Zeit, um sich zu sortieren, die Lager zu füllen, die Abläufe zu verbessern. Was zunächst wie eine Lösung des Problems wirkt, ist aus Sicht unser PartnerInnen vor Ort ein Grund zur Sorge. Die Ruhe trügt. Mittlerweile ist unser Besuch vier Wochen her. Erneut erreichen die Rettungszentralen Notrufe von Schlepperbooten aus und erneut füllen sich die Hot-Spots. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob sich die Befürchtungen bewahrheitet haben. Ganz sicher aber ist: Wer in die Flucht getrieben wird, hat triftige Gründe. Und die bahnen sich ihren Weg. Wir vom Projekt Seehilfe e.V. glauben, dass es Zeit ist, diesen Menschen zu helfen, statt sie abwehren, abgrenzen, einzäunen und gefangen halten zu wollen.

Ankündigung
Warum die Lage auf dem Mittelmeer rechtlich oft uneindeutig ist, welche Rechte und Pflichten die EU-Staaten haben und wie Seenotrettung im internationalen Völkerrecht geregelt wird, erklärt die Rechtsphilosophin Dr. Dana Schmalz in einem Blogbeitrag nächste Woche. Sie erläutert außerdem, warum die aktuelle Flüchtlingspolitik im Konflikt mit den Menschenrechten stehen könnte.

Zum Weiterlesen/-gucken:

In englischer Sprache!

Text und Recherche: Carolin Zieringer, Johanne Bischoff
Alle Übersetzungen wurden nach bestem Wissen von Carolin Zieringer vorgenommen.

*edit: dieser Text entstand nach der Sizilienfahrt des Projekt-Seehilfe-Teams und auf Basis der damaligen Recherchen im Gebiete zwischen Pozzallo und Catania. Das Team war vom 13 bis 28. August vor Ort. Alle zitierten Quellen sind direkte und persönlich Kontakte, soweit nicht anders angegeben.

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