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Das informelle Lager: Hotel Islamabad

puppe_eingang_swSchon als wir auf die Straße Richtung Lager abbiegen, verändert sich das Bild. Entlang der Straße laufen Menschen in zerschlissenen Kleidern. Sie sind in Gruppen unterwegs, oder alleine. Einige sitzen am Straßengraben. Nach einer Weile erscheint ein großer, nicht einsehbarer Komplex: Baracken stehen in Reih und Glied, umgeben von einem hohen Zaun. Vor dem Tor stehen Menschengrüppchen. Als sie das Auto unserer Begleiter erkennen, laufen sie in Richtung eines nahen Schotterplatzes.

Dort parken wir, um die mitgebrachten Lebensmittel zu verteilen. Die Menschen, die uns schnell umringen, sind überwiegend Pakistani und Afghanen. Sie leben nicht im Lagerkomplex. Sie wohnen auf der gegenüberliegenden Straßenseite – unter einer Autobrücke. Um in dieses informelle Lager zu gelangen, erklimmen die Bewohner eine kleine Mauer und klettern durch einen kaputten Maschendrahtzaun. An ihm hängen Kleidungsstücke, Handtücher, auch eine blonde Puppe haben die Bewohner als Dekoration befestigt. Ihre Behausungen dahinter sind aus Planen und Holzresten errichtet. Zelte und kleine Sitzgruppen aus Plastikstühlen stehen dazwischen.

Das informelle Lager ist dreigeteilt: Wir werden im „Hotel Kabul“, wie die Bewohner es nennen, willkommen geheißen. Dort leben die derzeit etwa 40 afghanischen Flüchtlinge. Durch einen Zaun abgegrenzt liegt daneben das „Hotel Islamabad“ der Pakistani. Am Ende steht das „Hotel Afrika“, in dem die derzeit etwa 10 afrikanischen Flüchtlinge leben. In der Hierarchie, die sich unter den derzeit etwa 120 Menschen gebildet hat, stehen sie an unterster Stelle.

Der Weg zwischen den Hütten im afghanischen Lagerteil ist plattgetrampelt und führt zur „Küche“: einem Unterstand, in dem sie über offenem Feuer kochen. Auch der Tee, zu dem wir eingeladen werden. Das Wasser dazu stammt aus dem offiziellen Lager von gegenüber. Auf die Ränder unserer Platsikbecher setzen sich Fliegen. Eine Ratte raschelt hinter uns in einem Einkaufswagen voller verdorbener Lebensmittel. Beim Betreten des Lagers warnten uns die Bewohner vor Schlagen.

Wenn EU und UN nur wüssten

Viele der Menschen hier, die auf dem Landweg vor den Taliban flohen, haben einen negativen Bescheid als Antwort auf ihren Asylantrag bekommen. Da aber Italien nur in den seltensten Fällen abschiebt, sitzen sie nun mitten in Sizilien fest. Einige von ihnen verbringen ihre gesamte Zeit vor dem legalen Lager, in der Hoffnung, dort einen Platz zu bekommen. Arbeiten dürfen sie nicht, für eine Rückfahrt, über Land durch die Türkei, fehlt das Geld. Abgesehen davon haben die Männer, mit denen wir sprechen, die Hoffnung auf ein erfolgreiches Leben in Europa noch nicht aufgegeben.

Immer wieder sprechen uns im Lager einzelne, aber auch Gruppen junger Männer an. Man hält uns für Angehörige der UN und zwei Afghanen versuchen, uns eindringlich die Unwürdigkeit ihrer Lebensumstände zu verdeutlichen. „We have to shit in the open. Everyone can see us, it’s inhuman. We need toilets!“ (Dt.: Wir müssen im Freien scheißen. Jeder kann uns dabei zusehen, das ist unmenschlich. Wir brauchen Toiletten!). Als wir uns erklären, bitten uns die Flüchtlinge, der UN und der EU von ihrer Situation zu berichten. Wenn die nur wüssten, wie sie leben müssen, würden sie schon etwas tun.

campwei__eshausAuch die Abfallentsorgung ist ein Problem. Enos, ein freiwilliger Helfer, der einmal in der Woche das Nötigste ins Lager bringt, hat auf unsere Einkaufsliste auch Müllbeutel geschrieben. Damit kümmern sich die Flüchtlinge um die Müllsammlung. Gegen den Abfall, der von der Autobahnbrücke geworfen wird, unter der sie kampieren, sind sie machtlos. Die städtische Müllabfuhr holt die gefüllten Beutel nicht regelmäßig ab. Täte sie dies, käme es dem Eingeständnis gleich, dass das informelle Lager zu einer festen Institution geworden ist. Stattdessen existiert es seit eineinhalb Jahren in einer Grauzone: Es wird nicht geräumt. Es wird nicht unterstützt. Es wird nur schweigend hingenommen.

Laut Enos bleibt niemand länger als 2 Monate unter der Brücke. Die Lebensumstände seien desaströs, die Bewohner ernähren sich nur von Grundnahrungsmitteln. Sie litten unter Magenproblemen, Durchfall, Darmerkrankungen, sagt Enos. Sich unter den gegebenen Umständen einigermaßen sauber zu halten, ist unmöglich. Das Wasser steht in offenen, alten Plastikkanistern. Dennoch bemühen sich die Flüchtlinge: Die Decken auf den Matratzen sind gefaltet, die Wege gefegt.

Moschee aus Stöcken

In der Mitte des „Hotel Islamabad“ haben sie sich eine Moschee gebaut. Ein Viereck aus Decken und Teppichen, ordentlich mit Stöcken umzäunt. Dass sich die Flüchtlinge im Nichts gerade einen Gebetsplatz gebaut haben, spiegelt ihre Religiosität. Kulturelle Einstellungen machen sich auch im Umgang mit uns bemerkbar: Ein Bewohner entschuldigt sich bei Hanne und Anna, dass er ihnen als Frauen nicht die Hand geben könne.

Einziges verbindendes Element der Männer ist ihr Status als illegalisierte Flüchtlinge. Als diese leben sie alle zusammen, jedenfalls für eine kleine Weile. Unter der Autobahnbrücke finden sie notdürftig Schutz, das legale Flüchtlingslager auf der anderen Straßenseite ist der Rettungsanker für den Notfall.

Nichtsdestotrotz sind die Flüchtlinge auf sich allein gestellt. Außer Enos kümmert sich niemand um ihren Verbleib. Gerade seien viele von ihnen abgewandert, wohin ist unklar. Vielleicht in eines der kleineren informellen Lager, die es verstreut überall gibt, in leerstehenden Häusern oder alten Fabriken. Vielleicht versuchen sie ihr Glück auch im Norden Italiens, vielleicht wandern sie weiter.

Anna

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