Wenn Fahid nicht arbeitet, dann macht er sich Sorgen. Über die Arbeit, seinen Lohn und die Zukunft. “We’re always in a rush”, erzählt Fahid. “It’s a lot: The rent, food, bills, clothes …” Keinen Tag habe er frei gehabt in den letzten Jahren.
Vor vier Jahren kam er aus Afghanistan nach Ragusa. Mit der Ausstellung von Dokumenten und dem Erhalt eines Aufenthaltstitels, so findet er, sei es für ihn erst richtig schwierig geworden.
Geflüchtete stehen mit dem Erhalt ihrer Papiere vor einem großen Fragezeichen: Sie müssen sofort aus der Unterkunft ausziehen und sich eine neue Bleibe suchen. Sie haben kein Geld, kaum Kleidungsstücke, selten einen Job. Sie sind darauf angewiesen, dass sie in ihrer vorherigen Unterkunft mit Italienischkursen und Jobvermittlungen vorbereitet wurden.
Ohne Anschrift gibt es kaum legale Jobs. Oft bleibt ihnen nur eine illegale Arbeit. Die Ausbeutung von nicht italienischen ArbeiterInnen ist ein größer werdendes Problem. Findet sich keine Arbeit oder kann das Fahrtgeld nicht zusammengebracht werden, um dorthin zu kommen, wo sich eine finden lässt, sind Geflüchtete obdach- und damit schutzlos.
Das “schöne Leben” in Europa
Wegen des Krieges, der sein Herkunftsland vollständig zerstört habe, floh Fahid nach Italien. Geschichten über den “Westen” seien Teil seiner Familiengeschichte: Amerikaner seien nach Afghanistan gekommen, danach Russen. Sie hätten für den Aufstieg der Taliban gesorgt, so hätten es seine Familienmitglieder erzählt. Nun sei das Land im Chaos und niemand wolle Verantwortung dafür übernehmen.
Vom “schönen Leben” in Europa, wie er es aus Erzählungen und dem Fernsehen in Afghanistan kannte, merkt Fahid hier nichts. Vor seiner Flucht hatte er Business Administration studiert. In Ragusa arbeitet er in einer Patisserie und als Übersetzer. Weiter als bis zur nächsten Mietzahlung kann er nicht denken.
Fahid wäre gerne in einer Großstadt, sieht dort jedoch keine Chance für sich: “Everything is expensive – rent, living supplies. Here it’s cheaper and quiet.” Er könne für seine Lebenshaltungskosten dort nicht allein aufkommen.
Der Preis, den er dafür bezahlt: Er lebt in einer sizilianischen Kleinstadt, ist isoliert, findet keine Frau.
Nicht vor und nicht zurück
“I wanted to go to university again”, erzählt er. Er fing damit an, musste allerdings nach kurzer Zeit wieder aufgeben. Während des Studiums konnte er nicht viel arbeiten und damit seine Wohnung nicht bezahlen.
So entschied er sich für die Patisserie, obwohl er mit diesem Job nicht zufrieden ist. Auch seine Arbeit als Übersetzer in Flüchtlingsunterkünften ist für ihn nur eine Arbeit. Ob es schwer sei, sich die Geschichten der Geflüchteten anzuhören, fragen wir ihn. Er schaut uns daraufhin irritiert an. Nein, meint er, sei es nicht. “Listening to the stories isn’t hard. Their life is.”
Er selbst wünscht sich, in Europa eine Chance auf ein freies, selbstbestimmtes Leben zu bekommen. Besonders, seit er seinen Aufenthaltstitel hat, sieht er, dass er davon weit entfernt lebt. Für ihn gibt es zwei Wege, wie Europa mit Menschen umgehen sollte, die aus einer Flüchtlingsunterkunft kommen: Entweder sie werden unterstützt oder abgeschoben. “If they don’t care about the refugees, they should transport them back!”
Anna
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Jendrik says
24. Juni 2015 at 14:36Dazu eine Frage: haben die Flüchtlinge religiöse Denkanstöße durch Pfarrer, Imame etc? Sie sind ja in extremen Situationen. Ich denke einige Gedanken aus den jeweiligen heiligen Schriften von praktizierenden Geistlichen könnte die Perspektive von Fahid im Umgang mit den Widrigkeiten des Alltags bereichern.
Jendrik
Anna says
25. Juni 2015 at 11:36Hey Jendrik,
danke für deine Frage!
Generell haben Geflüchtete Zugang zu Geistlichen. Gerade vom Imam in Ragusa habe ich gehört, dass er recht aktiv sein soll. Für Fahid wäre es also prinzipiell möglich, Zugang zu ihm zu finden. In Flüchtlingsunterkünften kann das anders aussehen. Wenn wir Verantwortliche danach fragten, wurde uns das immer wieder bestätigt, dass Geflüchtete natürlich ihre jeweilige Religion ausleben können. Wie das dann in der Praxis genau aussieht, können wir nicht sagen. Für Menschen, die in einer abgelegenen Flüchtlingsunterkunft wohnen, kann es schon aus ganz pragmatischen Gründen schwieriger werden: Muslime können dann vor dem Problem stehen, dass die nächste Moschee für sie schwer erreichbar ist. (In Sizilien gibt es eben einfach mehr Kirchen.)
Zu beachten ist in jedem Fall, dass viele Initiativen für Geflüchtete christlich motiviert sind. Eine Gefahr, die ich sehe, ist, dass „Denkanstöße“ in einigen von diesen Initiativen tatsächlich gezielt gegeben werden und auch über „Anstöße“ hinausgehen – natürlich gerade weil, wie du sagst, die Menschen in einer Extremsituation sind. Wir haben durchaus auch missionierende Christen getroffen.
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