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Resümee unserer ersten Sizilienfahrt 2016

13 Tage, 6.500 Kilometer und 12.000 Euro – das sind die Eckdaten unserer ersten Sizilienfahrt dieses Jahres. Vom 14. bis zum 27. April waren wir auf Sizilien unterwegs. Wir kehren berührt von unzähligen Schicksalen geflüchteter Menschen und beeindruckt von ebenso vielen Erlebnissen und Begegnungen zurück. Mit diesem Abschlussbericht wollen wir euch eine Zusammenfassung liefern. Wir wollen verdeutlichen, was genau sich hinter unserer Arbeit verbirgt und an welchen Stellen wir uns engagieren. Wir wollen damit möglichst transparent darstellen, wie wir auf Sizilien geflüchteten Menschen in prekären Situationen mit Soforthilfen sowie ideellen Förderangeboten unterstützen und wie wir weiterhin versuchen, öffentlich auf die Situation vor Ort aufmerksam zu machen.

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Die Fahrt in Zahlen

Über 6.500 Kilometer haben Johanne, Philipp, Ina und Felix, die dieses Mal für den Projekt Seehilfe e.V. nach Sizilien gefahren sind, innerhalb von 13 Tagen mit dem Transporter, der uns von Autohaus Wallmeier GmbH & Co.KG zum dritten Mal in Folge kostenfrei zur Verfügung gestellt wurde, zurückgelegt. Diese Karte zeigt die Route, die sie in knapp 48 Stunden bewältigt haben.

Während ihrer Reise haben Johanne, Philipp, Ina und Felix knapp 12.400 Euro an Spendengeldern ausgegeben. Um den Geflüchteten in ihrer desolaten Situation möglichst effektiv zu helfen, haben wir vor allem in Bekleidung, Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Medikamente investiert. Vor Ort kauften wir unter anderem 54 Kilogramm Reis, 164 Packungen Couscous, 159 Liter Sonnenblumenöl, 84 Liter Olivenöl, 44 Kilogramm Salz, 30 Kilogramm Zucker, 48 Packungen Kichererbsen, 32 Packungen Linsen, 719 Dosen Thunfisch und, da sich frisches Obst und Gemüse nicht lange genug hält, auch 378 Packungen passierte Tomaten.

Die folgende Grafik verdeutlicht, in welchen Verhältnissen diese Hilfsgüter erworben wurden.

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Geleistete Spenden im April 2016

Vernetzung, Zusammenarbeit und Öffentlichkeit

Die Wichtigkeit von Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen und engagierten Menschen ist für unsere Arbeit auf Sizilien kaum zu unterschätzen. Um die Sachspenden und die Güter, die wir vor Ort kaufen, so gut wie möglich einsetzen zu können, ist es unerlässlich, dass wir einen umfassenden Überblick über die aktuelle Lage und eine gute Einsicht in lokale Strukturen und Abläufe erhalten. Diese Informationen erarbeiten wir uns durch gründliche Recherche, erhalten sie aber auch zu einem großen Teil von unseren Kontakten auf Sizilien.

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Elvira, die Leiterin des Centro Astalli in Catania

Mit dem Centro Astalli Catania, einer Anlaufstelle, an die sich obdachlose Geflüchtete wenden können, arbeiten wir seit Juni 2015 zusammen. Geflüchtete werden hier ärztlich versorgt, können duschen und erhalten Kleidung und Sprachkurse. Als wir dieses Mal das Centro Astalli besuchen, sind sämtliche Vorräte leer. Elvira und Lucien, der als Kulturmittler für das Zentrum arbeitet, begrüßen uns sehr herzlich. Sie erzählen uns, dass die Duschen, der Arzt und auch die Sprachkurse weiterhin stark frequentiert werden. Wir übergeben dem Zentrum Trainingsanzüge und Shirts, die einerseits vom FC St. Pauli gespendet wurden und die wir andererseits von Werder Bremen vergünstigt erhalten haben. Weiterhin spenden wir Unterwäsche, vor Ort gekaufte Badelatschen, Hygieneartikel und Medikamente, wie Schmerzmittel und Augentropfen.

Immer wenn sich die Gelegenheit bietet, gehen wir mit einzelnen (obdachlosen) Geflüchteten einkaufen. Vor fast jedem Supermarkt Siziliens sitzt jemand und bietet Hilfe beim Tragen von Taschen oder beim Zurückbringen des Einkaufswagens an. Man kommt schnell ins Gespräch: Fluchtgeschichten, Fakten über das Leben in Sizilien und Erinnerungen an Zuhause werden erzählt. Dann gehen wir zusammen einkaufen. Reis, Tomaten, Öl, Thunfisch in Dosen – die Einkaufslisten sind immer gleich. Manchmal kommen auf Nachfrage auch persönlichere Wünsche zum Vorschein. Einer würde sich gerne eine Haarfärbung kaufen, ein anderer eine Telefonkarte, ein dritter ein Tiefkühlhühnchen.

Auch eine offizielle Flüchtlingsunterkunft, zu der wir bereits seit einer vorhergehenden Fahrt Kontakt haben, besuchen wir wieder. Da es sich um eine offizielle Unterkunft handelt und die Leitung dieser Einrichtung für die Versorgung der hier untergebrachten Menschen Geld bekommt, spenden wir keine Sachgüter. Allerdings verbringen wir wieder Zeit mit den Geflüchteten. Wir treffen Bekannte wieder, die wir bereits im Oktober 2015 kennengelernt haben, tauschen Neuigkeiten aus, führen viele interessante Gespräche und veranstalten einen Tanz- und Musikabend. Die Menschen haben jedes Mal sehr große Freude an solchen Aktivitäten, sind aber aufgrund der extremen Tristesse, traumatischer Erlebnisse und der daraus resultierenden Lethargie kaum in der Lage, solche Gelegenheiten selbst zu initiieren.

Zum ersten Mal arbeiten wir dieses Jahr mit Padre Carlo D’Antoni aus Siracusa zusammen. Wie schon im Fall des Centro Astalli vermittelte uns Lucia von Borderline Sicily den Kontakt zu dem Pastor, der sich seit über 20 Jahren in der Flüchtlingshilfe engagiert und von Amnesty International als „Human Rights Defender“ ausgezeichnet wurde.

Padre Carlo D’Antoni hat derzeit circa 20 Geflüchtete in seiner Kirche untergebracht und kümmert sich um viele weitere, die obdachlos auf der Straße überleben müssen. Hier in Siracusa helfen wir vor allem mit Nahrungsmitteln. Besonders sättigende und nahrhafte Lebensmittel, die viele Proteine liefern, werden immer wieder gewünscht. Insgesamt überreichen wir dem Padre sechs Transporterladungen an Lebensmitteln — wieder sind es hauptsächlich Grundnahrungsmittel wie Reis, Couscous, Öl, Thunfisch in Dosen und passierte Tomaten. Außerdem spenden wir in Siracusa vor Ort gekaufte Schlafsäcke, Decken und Isomatten, eine Babyausstattung, Seife, die uns von Lush in Hamburg geschenkt wurde, und Schmerztabletten.

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Verteilung von Lebensmittel und anderen Gütern

Regelmäßig besucht der Padre ein Camp, in dem 150 Menschen ohne Papiere leben. Zwar arbeiten diese Geflüchteten auf den Feldern in der Umgebung als Tagelöhner, doch das Geld reicht kaum, um sich angemessen versorgen zu können. Die Männer leben in Zelten ohne Strom und fließendes Wasser. Auf uns machte der Gesundheitszustand vieler einen schlechten Eindruck. Ein alter Stall dient ihnen als Gemeinschaftsraum, ein Generator liefert zumindest Strom für Licht, einen Fernseher und einen Backofen. Die illegalisierten Arbeiter sind auf Unterstützung angewiesen. Unser erster telefonischer Kontakt mit dem Padre zeigt, dass die Reserven und auch seine Kraft zu Ende gehen. Zumindest mit Lebensmitteln, Schlafsäcken und Isomatten können wir hier aushelfen. Die Menschen in diesem Camp können wir von euren Spenden mit ausreichend Lebensmitteln für einen Monat versorgen. Auch zwei Metallkanister mit 40 Liter Diesel für den Generator bringen wir mit. An der unzumutbaren Lebenssituationen können wir aktuell nicht viel ändern. Uns bleibt nur, immer wieder auf diese Problematik aufmerksam zu machen.

Auch Giuseppe treffen Johanne, Philipp, Felix und Ina dieses Jahr zum ersten Mal. Lorenzo, ein Aktivist im Linken Zentrum in Catania, hat den Kontakt vermittelt. Giuseppe hat mehrere Häuser geerbt und nutzt diese nun, um Menschen in schweren Situationen ein Zuhause zu geben. Neben Menschen, die von Altersarmut betroffen sind oder aus dem Gefängnis entlassen wurden, beherbergt Giuseppe mittlerweile auch viele Geflüchtete. Wir können uns vorstellen, mit ihm während unserer nächsten Fahrten intensiver zusammenzuarbeiten.

Wie schon während der vergangenen Fahrt haben wir auch dieses Mal Luigi Ammatuna, den Bürgermeister der Hafenstadt Pozzallo, in die ein Fünftel der Geflüchteten nach ihrer Seerettung gebracht werden, getroffen. Begleitet von einer Reporterin von Radio France Internationale nehmen wir die Einladung gerne an, um seine Sicht auf die veränderte Situation zu erfahren. In seinem herrschaftlichen Büro empfängt er uns. Als Lokalpolitiker ist es ihm im Gegensatz zu vielen anderen möglich, den Hotspot auch von innen zu besuchen. Die Zustände empfindet er als ordentlich, doch das System ist ihm zuwider. Er fordert nach wie vor eine umfassende europäische Rettungsmission, eine Fortführung von Mare Nostrum. Denn gerade die Toten im Mittelmeer machen ihn betroffen. Darum ist er auch bereit, in seiner Stadt an einer prominenten Stelle eine Gedenktafel zu installieren. Auch wenn es sich bei Pozzallo um einen Urlaubsort handle, gehöre auch diese Seite zu seiner Stadt. Uns bezeichnet er mit einem Lachen als hartnäckig, was uns insgeheim sehr freut.

Hotspots

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“Hotspot” in Pozzallo, Foto: Martin Gommel

Dass aber auch die Zusammenarbeit mit Offiziellen kein unbedingter Garant für eine erfolgreiche Berichterstattung und Hilfsarbeit vor Ort ist, wird Johanne, Philipp, Ina und Felix noch einmal anhand eines Zwischenfalls am Hotspot in Pozzallo deutlich. Trotz der ausdrücklichen Erlaubnis des Bürgermeisters, dass wir uns dort – zumindest von außen – ein Bild von der Lage machen können und fotografieren dürfen, werden wir von der Polizei und vom Militär daran gehindert, die Zustände zu dokumentieren. Schon seit Monaten versuchen Journalisten und Hilfsorganisationen erfolglos Zugang zum Gelände zu erhalten. Symbolischer kann eine Handlung kaum sein, verstellt sie doch ganz real und physisch den Blick auf tieferliegende Problemlagen, die uns derzeit größte Sorgen bereiten. 

Pozzallo war einer der ersten Orte, in denen eine Erstaufnahmeeinrichtung in einen Hotspot umgewandelt wurde. Mit den Hotspots soll in Schnellprüfverfahren geklärt werden, ob Geflüchtete überhaupt ein Recht haben, einen Asylantrag zu stellen. Die Europäische Kommission erhofft sich davon, die „außergewöhnlichen Migrationsströme“ effizient steuern zu können und die Geflüchteten, die keinen Anspruch auf einen Asylantrag haben, möglichst schnell in ihr jeweiliges Herkunftsland zurückzuführen.

Über die menschenunwürdigen Zustände in diesen Hotspots  haben wir bereits berichtet, als die Organisation Ärzte ohne Grenzen, die bis zum Herbst 2015 im Hotspot in Pozzallo tätig war, dem italienischen Parlament ihren Abschlussbericht vorgelegt hatteMittlerweile bereiten uns nicht mehr nur die strukturellen Probleme der Hotspots Sorgen. Auch die Rechtmäßigkeit dieses Konzepts muss aus unserer Sicht deutlich hinterfragt werden. Wir gehen davon aus, dass dieses „Schnellverfahren“ nicht mit dem Recht auf Asyl und auf eine funktionierende Prüfung übereinstimmt. Jeder Mensch hat den Anspruch auf ein reguläres und umfängliches Asylverfahren, das in dieser Form jedoch dem größten Teil der Ankommenden von vornherein verwehrt wird.

Die Geflüchteten kommen nach der Rettung auf See in die Hotspots und werden dem Schnellprüfverfahren unterzogen, das, unseren Informationen zufolge, aus nur drei Fragen besteht. Wird eine dieser Fragen „falsch“ beantwortet, werden die Menschen spätestens nach 24 Stunden des Hotspots verwiesen. Vorher müssen Sie ein Dokument unterschreiben, in dem sie zusichern, dass sie innerhalb von 7 Tagen freiwillig und auf eigene Kosten europäischen Boden verlassen. Dieses Dokument liegt uns in einer Version vom Oktober 2015 vor. Ob es seitdem verändert wurde, wissen wir nicht. Die Dokumente werden unseren Informationen zufolge in Englisch, Französisch, Arabisch und Italienisch vorgelegt. Auch beim Ablauf des Schnellverfahrens selbst kommt es regelmäßig zu Verstößen, da zum Beispiel Befragungen einzelner Personen auf ganze Gruppen übertragen werden.

Wir haben es hier mit einem Prozess zu tun, der genau die Probleme strukturell hervorruft, denen sich unsere Arbeit entgegenstellt. Diese Situation muss sich dringend ändern. Wir müssen uns bewusst machen, dass, solange solche Mechanismen wie das Hotspotsystem an Europas Grenzen wirken, unsere Arbeit und die Anstrengungen aller Hilfeleistenden vor Ort nur eine Arbeit an Symptomen bleiben kann. Es ist ein Arbeiten an Symptomen, die strukturell — auch von der EU —  hervorgerufen und gefördert werden. Es bleibt nur zu hoffen, dass diese Strukturen und die mit ihnen verbundenen Probleme letztlich aufzulösen sind, damit unsere Arbeit irgendwann überflüssig sein wird.

Bis dahin bleibt uns nur, uns herzlich bei euch für die tolle Unterstützung und eure Spenden zu bedanken. Ohne euch wäre unsere Arbeit auf Sizilien nicht möglich. Gleichzeitig möchten wir die Gelegenheit nutzen, zu neuen Spenden aufzurufen. Wir hoffen, wir konnten euch einen guten Einblick in unsere Arbeit und in die schockierende Situation der Geflüchteten geben. Damit auch unsere zweite Fahrt in diesem Jahr ein Erfolg wird und wir möglichst vielen Menschen helfen können, sind wir auf eure Hilfe angewiesen. Spenden könnt ihr ganz einfach per PayPal oder mit einer Banküberweisung. Alle dazu erforderlichen Infos findet ihr hier

Text: Kevin, Johanne und Philipp

Fotos: Philipp, Ina und Johanne

Comments(2)

  1. REPLY
    Jendrik says

    Vielen Dank für den ausführlichen Einblick in eurer Engagement vor Ort. Und tausend Dank für die tolle Arbeit und die Zeit die eure Seehilfe an diesem herausfordernden und wunden Punkt unserer Gesellschaft investiert. Find ich klasse.

    Gerne könnt ihr eure Website wieder mehr befüllen. Ohne Social-Media Account erfahre ich sonst so wenig. Das ist schade.

  2. REPLY
    Johanne says

    Lieber Jendrik,

    vielen dank für deine netten und unterstützenden Worte! Es freut uns sehr, dass du an unsere Arbeit so regen Anteil nimmst. Du kannst unsere Facebookseite und unseren Twitter-Account komplett einsehen auch wenn du keinen Account hast/haben möchtest. Dort stehen natürlich andere Inhalte zur Verfügung als auf dieser Seite, darum lohnt sich der Besuch ganz sicher.

    Liebe Grüße,
    Johanne (Projekt Seehilfe e.V.)

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