„Solidarität ist kein humanistisches Anliegen, sondern politisches Handeln“:
Eine Collage aus Texten der Publizistin Mely Kiyak mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Flüchtling sein beschreibt eine Bewegung. Weg von der Gefahr, hin zur Sicherheit. So betrachtet ist eine Flucht dann zu Ende, wenn der Flüchtling sicheren Boden betritt. Im Europäischen Recht ist der Flüchtling aber auch ein rechtlicher Status. Das heißt, die Fluchtbewegung ist beendet, der Status jedoch bleibt. Oft für viele Jahre. Nehmen wir an, wir würden alle Flüchtlinge, sobald sie sicheren Boden betreten, nicht mehr Flüchtlinge nennen, sondern sie zu freien Menschen erklären, die in europäische Länder ein- und ausreisen dürfen, wie würden wir die Bewegung dieser Menschen dann nennen?
Stellen wir uns vor, diese „Flüchtlinge“ würden zuerst als Mensch gesehen, als der, der er oder sie ist, mit einer Biographie, Eigenheiten, Macken und Liebenswürdigkeiten. Stellen wir uns vor, der „Flüchtling“ würde zuvorderst als freier Mensch betrachtet.
Würde dann das Gefühl aufhören, dass uns die Flüchtlinge “gehören” und “wir” mit ihnen machen dürften, was wir wollten? Reinlassen, rauslassen, Geld gewähren, Geld kürzen, in Transitzonen stecken, in Hotspots, Registrierungslager, Internierungslager, Auffanglager, irgendwelche anderen Lager oder gleich erschießen und so weiter?
Wen schützt die Grenze?
Erklärt sich dadurch auch die Diskussion um die Ultima Ratio des Grenzschutzes? Diese Ultima Ratio des Abwehr mit allen Mitteln in der Flüchtlingspolitik, auf die sich Parteien, Populisten und „besorgte Bürger“ mit immer noch schärferen, menschenverachtenden Forderungen im Eiltempo hinbewegen? Derzeit zirkelt die Debatte nämlich in erster Linie darum, Flüchtlinge vor den Toren der EU auszuschließen. Es geht nicht darum, Menschen in Not ein gutes Leben zu ermöglichen, sondern diese „Bedrohung“ draußen zu halten. Die deutsche Übersetzung der Ultima Ratio aus dem Lateinischen meint zunächst “letzte Möglichkeit” oder “letztes Mittel”. Wenn also beispielsweise die AfD den Schusswaffengebrauch an der Grenze als Ultima Ratio fordert und die Internierung von Flüchtlingen in Ungarn klaglos hingenommen wird; haben wir dann eigentlich eine Grenze des Menschlichen erreicht?
Wie konnte es dazu kommen?
Europa betrachtet den Umstand, dass ein Teil der Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und dem Irak – demnächst vielleicht auch aus dem Libanon, der Türkei, Libyen und einigen weiteren afrikanischen Staaten – nach Europa fliehen, als große Herausforderung und Problem.
Die daraus resultierende Aufgabe wird jedoch nicht darin gesehen, Flüchtlinge bestmöglich zu behandeln und unter allen Umständen sicher unterzubringen, sondern abzuwehren. Das ist derzeit der einzige Vorschlag, über den sich nahezu alle Europäer einig sind.
Wenn Flüchtlinge als Problem begriffen werden, wird im gleichen Atemzug ihre Flucht problematisiert. Würde man hingegen die Fluchtursachen als Problem begreifen, wären die Flüchtlinge nicht mehr Problemverursacher, sondern Leidtragende. Sie wären Opfer. Opfer an Grenzen abzuweisen, könnte man schwerlich als Lösung bezeichnen. Denn für Opfer gibt es normalerweise Hilfe. Würde man die Menschen an den europäischen Grenzen nicht als Problem, sondern als Opfer betrachten, stünden dort nicht nur Soldaten und Polizisten, sondern auch Erste-Hilfe-Stationen mit Ärzten, Schwestern, Sanitätern, Notfallzelte, Lazarette und Suppenküchen.
Es wäre ein völlig anderer Diskurs. Einer, den wir von den Hungerkatastrophen der Dritten Welt kennen. Nie hat man die hungernden Menschen als Problem betrachtet, sondern den Hunger. Nicht die Hungernden wollte man bekämpfen, sondern die Machthaber. Im aktuellen Flüchtlingskonflikt aber sind selten Assad, der gescheiterte Afghanistan-Einsatz oder die Unterversorgung in den Flüchtlingslagern mit Problem gemeint, aber immer die Flüchtlinge. So hat sich im allgemeinen Bewusstsein der Europäer der Begriff Lösung für ein Konzept durchgesetzt, das in Wirklichkeit gar keine Lösung beinhaltet. Jedenfalls nicht für die Fliehenden.
So ist zum Beispiel die Haltung, die blonden Töchter vor den Flüchtlingen schützen zu wollen, eine , für die man politisch absolut nichts zu befürchten hat. Das ist radikaler politischer Mainstream in Europa quer durch alle Parteien. Wer wirklich in diesen Tagen ein Oppositioneller sein möchte, der etwas zu riskieren wagt, muss einfach nur den Satz sagen: “Ich stehe für jeden einzelnen Punkt, der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN steht.” Es gibt derzeit keine andere Haltung, die derart viel Hass, Häme und Verachtung nach sich zieht.
In dieser Situation wird auch Solidarität begriffen als bürgerschaftliches Engagement oder Angelegenheit einer Menschenrechtsorganisation, nicht aber als politisches Werkzeug einer egalitären Demokratie.
Solidarität ist gerade nicht die Angelegenheit einiger weniger im Kampf für spezielle politische Interessen, wie wir es aus der Arbeiterbewegung kennen. Solidarität ist auch kein Wert, den es anzustreben gibt, sondern Solidarität ist ein Akt der Handlung. Ein politisches Instrument, das es einzusetzen gilt und das bereits vielfach eingesetzt wird. Ich möchte im Folgenden einige Punkte antippen und zeigen, dass wir das Prinzip Solidarität in unseren Politiken einsetzen. Es gibt Beispiele, wo wir sie mit Wertdebatten, Inklusion oder Exklusion überhöhen, manipulieren, degradieren und Beispiele, wo wir durch eine geschickte Sprache verschleiern, dass wir es mit Solidarität zu tun haben, aus Angst, Teile der Bevölkerung zu verschrecken. Solidarität ist also nichts Neues, sondern die Basis für alles Handeln. Die Frage ist immer nur, wer sich mit wem warum solidarisch zeigt.
Mely Kiyak ist Schriftstellerin und Kolumnistin. Ihre Essays, Analysen und Radiofeuilletons sind allen bekannten Medien erschienen. Ihre wöchentliche Kolumne „Kiyaks Deutschstunde“ erscheint jeden Mittwoch auf Zeit Online.
http://www.zeit.de/serie/kiyaks-deutschstunde
Mely Kiyak ist seit Winter 2013 Deutschlands erste Theaterkolumnistin an der Berliner Staatsbühne Gorki, wo sie vierzehntägig politische und gesellschaftskulturelle Ereignisse kommentiert. Die Kolumne „Kiyaks Theaterkolumne“ erscheint auf www.gorki.de/kolumne. Für ihre Arbeit im Kampf gegen Rassismus und für Menschenrechte möchten wir Ihr als Projekt Seehilfe e.V. unseren Dank aussprechen; ebenso für den herzlichen Kontakt und einige gute Anregungen im Gespräch!
Dieser Text wurde von Carolin Zieringer aus Fragmenten von folgenden publizierten Artikeln/Reden editiert und von Mely Kiyak freigegeben:
http://www.fr.de/kultur/mely-kiyak-auch-fluechtlinge-gehoeren-an-den-verhandlungstisch-a-371855
http://www.zeit.de/kultur/2015-11/afd-fluechtlinge-kiyak-deutschstunde
http://www.zeit.de/kultur/2016-02/boris-palmer-fluechtlinge-kiyak
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