Im Jahre 1939 veröffentlichte John Steinbeck den Roman “Früchte des Zorns”. Darin beschäftigt er sich mit dem Schicksal einer Familie, die sich dazu entschließt, gemeinsam ihr Zuhause zu verlassen und im Westen des Landes eine neue Heimat und vor allem Arbeit zu finden. Das Setting des Romans ist die USA zur Zeit, als die Farmer des mittleren Westens der vereinigten Staaten, getrieben vom Dust Bowl und der großen Depression, aus wirtschaftlicher Not heraus nach Kalifornien aufbrechen. Neben der beschwerlichen und zum großen Teil von Hoffnung getriebenen Reise der (von der einheimischen Bevölkerung Kaliforniens abfällig als) “Oakies” bezeichneten Landbevölkerung beschreibt Steinbeck ebenso einfühlsam wie realistisch, mit welchen Widrigkeiten diese Menschen sich in ihrer neuen Wunschheimat konfrontiert sehen. Kein Überangebot an fair entlohnter Arbeit, kein Verständnis von der einheimischen Bevölkerung, keine Zukunft im Lande Eden. Dafür bestimmen Arbeitslager, Ablehnung und offener Hass der ansässigen Bevölkerung die Verzweiflung der Geflüchteten im eigenen Land.
Die Zeit, die dieses mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Buch beschreibt, ist lange vorbei, doch die Thematik könnte aktueller nicht sein. Wir erleben, wenn wir denn wollen, wie sich riesige Menschengruppen auf den Weg machen, um in anderen Teilen der Welt bessere Lebensbedingungen zu finden. Dabei sind aber viele der Geflüchteten heute durch Verfolgung, Unterdrückung und Tod angetrieben, sich in eine ungewisse Zukunft aufzumachen – und eben nicht nur durch Armut wie die Familie Joad aus dem Roman. Die Bedingungen, die Geflüchtete hier bei uns in Europa vorfinden, sind zwar nicht dieselben, wie die von Steinbeck beschriebenen, aber dennoch ebenso bekümmernd und bezeichnend. Die Welt hat sich weitergedreht, aber hat sich so viel verändert?
Über 500 Geflüchtete erreichen Catania am ersten Tag unserer Sizilienfahrt
Im Jahre 2016 stehen wir vom Projekt Seehilfe e.V. in Catania auf der Aquarius, dem Schiff von SOS Mediteranee, und sehen dabei zu, wie über 500 geflüchtete Menschen zum ersten Mal italienischen Boden betreten. Sie sehnen sich, genauso wie die Protagonisten aus Steinbecks Roman, nach einer besseren Zukunft für sich und ihre Familien. Die Hoffnung hat sie den weiten Weg auf sich nehmen lassen. Und tatsächlich sieht man, wenn man über das Schiff schaut, viele hoffnungsvolle und glücklich wirkende Augen und Gesichter. Aber darüber hinaus auch viel Erschöpfung, viel Ratlosigkeit und Angst. Einer der Migranten hockt neben uns im engen Gang zum Deck, den Blick starr gen Boden gerichtet, und scheint sich nicht darum zu kümmern, ob er zu den ersten gehört, die von Bord gehen dürfen.
Auf dem vorderen Teil des Schiffes halten sich einige der Geflüchteten mit Gesängen bei Laune. Weiter in der Mitte, in einigen der Gänge und in ein paar Nischen sind diejenigen, die weniger Kraft haben. Sie sitzen mitten zwischen Kleidungsstücken, Schuhen und Socken – völlig durchnässt. Diejenigen, die ihnen geholfen haben, scheinen gut gelaunt, machen Scherze und sind geduldig. Auch wenn einige der Geflüchteten versuchen, unter Notfalldecken, die sie vor dem Regen schützen, ihre Freunde an den Helfern vorbei von Bord zu schummeln. Die Helfer bemerken das und machen eine lustig gemeinte schnippische Bemerkung. Alle lachen. Derjenige der von Bord darf, wirft seinem zurückgelassenen Freund trotzdem noch einen unsicheren Blick zu. Das ganze dauert nur einen kurzen Augenblick, dann treten andere Gesichter an die Plätze ihrer Vorgänger, und es geht von vorne los.
Im strömendem Regen werden von den Helfern mit der notwendigen Ordnung und Sorgfalt kleine Gruppen vom Boot gelassen – einer nach dem anderen. Auf die Geflüchteten warten dann nicht weitere Helfer, sondern Menschen in Zelten, die für die Registrierung zuständig sind. Diese werden sie zwingen die Kopfbedeckungen (weiße Handtücher, die sie auf dem Schiff zu ihren weiß-transparenten Maleranzügen bekommen haben) abzunehmen. Sie werden dann fotografiert und zu den Zelten des italienischen roten Kreuzes geleitet.
Hoffnungen und Erwartungen versus Zukunft
Wir beobachten das Ganze auch von der Brücke des Schiffes aus, hören uns ein paar Erzählungen vom Präsidenten von SOS Mediteranee, Klaus Vogel, an und wissen: Wenn wir hier runter wollen, dann gehen wir einfach an den Polizisten vorbei. Die wollten uns zwar auch zuerst nicht auf das Gelände lassen, aber haben sich dann doch von uns bzw. unserem mitgereisten Journalisten, Dennis Leiffels, überzeugen lassen. Die Geflüchteten werden in Busse geladen, erhalten dort Informationsblätter, und werden dann in die sogenannten Hotspots gefahren. Was dann passiert, kann man nachlesen – wenn man sich denn dafür interessiert. Auch in den Bussen sehen die Augen der Insassen noch hoffnungsvoll und erleichtert aus. Leute winken und Kinder lachen. Was die Insassen jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wissen, ist, dass die Tour noch nicht zu Ende ist. Die vermeintliche Reise nach Eden geht noch weiter, womöglich ähnlich wie von John Steinbeck geschrieben. Auf sie wartet kein Eden, keine Arbeit (höchstens die der Ausbeutung auf italienischen Feldern), und aller Wahrscheinlichkeit nach auch eine eher skeptische Haltung der hiesigen Bevölkerung.
Was früher in den Vereinigten Staaten von Amerika zur Zeiten der großen Depression schon einmal passiert ist, passiert auch heute noch und immer wieder. Die Menschen, die ihre Heimat und ihre Familie lieben und dennoch fliehen müssen, streben in Richtung Europa. Sie erhoffen sich Sicherheit, ein friedliches Leben und eine Zukunft. Vielerorts erwartet sie Ausbeutung, Ablehnung und Hass.
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