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Schwanger auf der Flucht

„I was at the doctor’s, but I couldn’t get in… I don’t have the documents yet, so he told me to pay and we couldn’t. We have to go back next week.“ Während die 26-jährige Mary* aus Nigeria dies erzählt, atmet sie schwer. Sie ist hochschwanger und erwartet ihr erstes Kind in drei Wochen. Hinter uns auf einem Tisch stehen Diabetesmedikamente, weil sie Schwangerschaftsdiabetes hat. Was, wenn sie schnell Hilfe bräuchte?

Zusammen mit ihrem Mann kam sie vor 2 Jahren nach Ragusa, wo sie heute mit ihm in einer eigenen Wohnung lebt. Sie haben eine begrenzte Aufenthaltsgenehmigung und müssen sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Ihre Ein-Zimmer-Wohnung kostet 150 Euro und liegt in der heruntergekommenen Altstadt Ragusas. Um die Miete und alles weitere zu bezahlen, geht Marys Mann jeden Tag am Supermarkt betteln. Theoretisch dürften beide arbeiten. Eine Beschäftigung zu finden erscheint für sie in einer Region, in der allein die Jugendarbeitslosigkeitsrate bei 50 Prozent liegt, allerdings unmöglich.

Nigeria

In Nigeria hatte Mary ihre gesamte Familie verloren. In einer anderen Familie, die sie aufgenommen hatte, fiel ihr das Leben schwer. Als sie ihren Mann kennen lernte und er die Flucht nach Europa antreten wollte, entschloss sie sich mitzugehen. Drei Jahre sollten sie unterwegs sein. Sie erzählt, dass sie immer nur Geld hatten, um von einer Grenze zur nächsten zu kommen. Dann mussten sie arbeiten, um sich neues zu verdienen. Die längste Zeit verbrachten die beiden in Libyen. Ihre Stimme ist leise, aber aufgewühlt. Sie erzählt von Tagen in der Wüste, an denen sie kein Wasser hatten und nichts zu essen. Sie ist Christin und sehr religiös.** Das Beten habe ihr geholfen, sagt sie. „We prayed. Who did not pray, died.“ Sie habe viele Tote in der Wüste gesehen.

Während sie das erzählt reicht ihre Freundin, ebenfalls aus Nigeria geflohen, ihr Smartphone herum. Sie zeigt uns ein Video, das in der libyschen Wüste aufgenommen sei. Überall im gelben Sand liegen Tote, das Bild ist unterlegt mit einer Musik, die sich für uns wie arabischer Klagegesang anhört. Während die Schwangere spricht, läuft das Video weiter und weiter, immer mehr Leichen sind zu sehen.

al-Gaddafis Sturz bedeutete Lebensgefahr

Zwei Jahre habe sie in Libyen verbringen müssen, um Geld für die Überfahrt zu verdienen. Diese Zeit sei besonders schwer gewesen: Schon unter al-Gaddafi sei die Situation für Flüchtlinge kompliziert, seit dem Umsturz seien sie in permanenter Lebensgefahr. Mary erzählt von allen möglichen Arbeiten, bei denen sie immer ausgebeutet wurden. Ohne die 1000 Euro für die Überfahrt hätten sie jedoch keine Wahl gehabt. Die Preise für die Plätze im Boot variierten, lernen wir von verschiedenen Menschen, die mit Flüchtlingen in Sizilien arbeiten. Bei ungefähr 1000 Euro liege der Preis für einen Platz am Rand des Bootes. Etwa 1500 Euro Eurokoste ein sichererer Platz in der Mitte. Schwimmwesten müssten für um die 300 Euro dazu gekauft werden, sie seien nicht inklusive.

Mary fährt fort, dass sie in Libyen eine Weile mit einer Frau zusammen gelebt haben, die dort schwanger wurde. Der Rückweg sei versperrt gewesen, denn „once you’re on the flight you cannot go back.“ Vor, über das Mittelmeer, habe sie auch nicht gekonnt, weil sie Angst vor der Überfahrt und noch nicht ausreichend Geld zusammen hatte. So sei der Stress für sie immer größer geworden, ihre Schwangerschaft sei vorangeschritten, sie habe eigentlich nicht mehr arbeiten können, allerdings müssen. Nachdem Mary von der Fehlgeburt der Frau erzählt, davon, dass sie daran gestorben sei, schweigt sie und streicht sich mit kreisenden Bewegungen über den Bauch.

Aus Bildern wie diesen schrecke sie jede Nacht hoch, erlebe ihre Flucht immer wieder. Jedes Mal bete sie dann, sagt sie. Dies helfe ihr, sich abzulenken. Psychologische Betreuung in irgendeiner Form steht Flüchtlingen mit Aufenthaltsgenehmigung nicht zu. So ist das Gebet für sie die einzige psychische Stütze. In der Kirche finde sie eine Gemeinschaft, obwohl sie – anders als die Mehrheit in Italien – Evangelin ist. Zusammen mit ihrer Freundin lacht sie über die Steifheit der Italiener_innen während der Messe.

Neben Mary stehen die Tüten mit Babysachen und Grundnahrungsmitteln, mit denen wir ihr wenigstens eine kurze Verschnaufpause in der Sorge um die Zukunft zu verschaffen hoffen. Ausgerechnet eine Flasche Olivenöl löst bei ihr und ihrer Freundin die größte Aufregung aus. Sie bedankt sich überschwänglich und drückt die Flasche an ihr Herz. In Nigeria sei Olivenöl sehr selten und teuer, berichtet sie, und werde zum Gebet benutzt. Sie werde es segnen, sich die Fingerspitzen damit betupfen und sich bekreuzigen, wenn die Erinnerungen an die Flucht sie überfielen. Irgendwann wird jedoch auch die 2-Liter-Vorratsflasche zur Neige gehen.A

Anna

*Um die Flüchtlinge, mit denen wir sprachen, zu schützen, haben wir ihre Namen geändert.

**Während unserer Reise haben wir sehr viele sehr religiöse Menschen getroffen. Einige waren auf der Flucht vor religiöser Verfolgung, bei anderen verstärkte die Flucht selbst den Glauben an und das Vertrauen in Gott – sei dies ein christlicher oder ein muslimischer.

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