Die Geschichten von drei Geflüchteten, die wir schon lange kennen
„Friends, how nice to of you to visit me! I would like to invite you to sit down, have a tea, have a chat!“ Lambert zeichnet mit seiner rechten Hand eine einladende Geste in die Luft. Doch dort, wo er gerne Stühle hätte, um uns einen Platz anzubieten, ist nur grauer Asphalt zu sehen und an Stelle von Tee, den er gerne servieren würde, hat er nur Wasser für uns. Wir gucken uns verlegen an.
Lambert ist einer von vielen Geflüchteten, die wir seit einigen Jahren kennen. Immer wenn wir in Siracusa sind, fahren wir an „seinem“ Supermarkt vorbei. Jedes Mal sitzt er davor, um den Menschen beim Einpacken und Tragen zu helfen. So auch dieses Mal. Mit Lambert müssen wir uns nie verabreden, wie immer haben wir ihn dort angetroffen, wie immer ist er freundlich und wie immer hat er eine Lebensweisheit, die er uns mit auf den Weg gibt.
Er ist vielleicht Mitte 50 und lebt seit etwa zehn Jahren in Sizilien. Seit er seine Arbeit verloren hat, sucht er sich auf der Straße andere Beschäftigungen. Wie so viele erzählt er uns, dass er mit Freunden in einem Haus lebe. Das Geld für die Miete bekommt er manchmal von italienischen Bekannten, die ihn vom Supermarkt kennen. Lambert nennt sein Leben eine “Hölle”. Menschen wie ihm ginge es, als hätten sie eine Krankheit, die sie langsam töte. Das Leiden sei stetig, es sei im Moment stets erträglich, aber über eine lange Zeit zehre es einen auf.
Seit wir Lambert kennen, hat sich an seiner Situation kaum etwas verändert. Und damit geht es ihm wie vielen anderen in Italien. Bemerkenswert ist, dass beinahe alle Geflüchteten, die wir vor Supermärkten oder an Ampelkreuzungen kennengelernt haben, aus Nigeria kommen. Auch wenn sogar andere Geflüchtete sie für ihre vermeintliche Bettelei missbilligen, weil sie, so erzählte uns einer, damit ein schlechtes Bild auf die Gruppe geflüchteter Menschen allgemein werfen würden, machen sie weiter und gehen jeden Morgen zu ihrer „Arbeit“– weil es für sie der einzige Weg ist.
Eine kleine Normalität
Einen anderen Weg hat Fahid* gefunden. Den Pakistani haben wir vor zwei Jahren in einer Unterkunft kennengelernt. Er hat inzwischen Papiere, ist umgezogen und bäckt Pizza. In Pakistan war er Kameramann, mittlerweile ist er froh über jeden Job, den er übernehmen kann. Er mag das Restaurant, in dem er arbeitet, auch wenn er die Pizza, die er macht, nicht selbst essen kann. Weil dort mit alkoholhaltigen Putzmitteln gereinigt wird, entsprechen die Speisen nicht seinen muslimischen Vorstellungen.
Insgesamt hat sich seine Situation in den letzten Jahren verbessert, sein Italienisch ist flüssig, sein Englisch nutzt er immer weniger. Was geblieben ist, ist die Tatsache, dass er es nicht akzeptieren kann, dass wir ihn einladen, wenn wir uns mit ihm treffen. Er besteht darauf, uns in die beste Eisdiele einzuladen und uns von möglichst vielen Sorten kosten zu lassen. Dass er in diesem Sommer recht zufrieden scheint, freut uns, gerade weil es schon anders war. Er ist noch lange nicht angekommen in der italienischen Gesellschaft, aber wir treffen ihn als Freund, um mit ihm einen netten Nachmittag zu verbringen.
Abwärtsspirale
Auch Ibrahim* treffen wir aus diesem Grund, wissen aber bereits, dass sein Leben genau gegenteilig zu dem von Fahid verläuft. Er lebt nicht mehr in Sizilien, sondern in einem der Zeltlager für Geflüchtete, die für 10–20 Euro pro Tag auf den Feldern Kalabriens arbeiten. Wir verabreden uns mit ihm auf der Rückreise und haben bereits auf dem Weg zu ihm ein ungutes Gefühl im Bauch. Als wir ihn kennenlernten, lebte er in einer offiziellen Unterkunft und war voller Hoffnung, wollte arbeiten und sich ein neues, normales Leben aufbauen mit einem Job, einer Wohnung, einer Frau und Kindern. Nichts davon hat sich für ihn bisher erfüllt und von allem ist er weiter entfernt als jemals zuvor.
Für Ibrahim ist es selbstverständlich zu arbeiten, also ist er dorthin gegangen, wo er welche gefunden hat. Dass es im Zeltlager viele ‘Verrückte’ gibt, erwähnt er im Laufe des Gesprächs nur beiläufig. Als wir fragen, ob er jemanden hätte, der ihm ein Freund sei, schweigt er. Von uns lässt er sich nur eine Telefonkarte schenken, um seine Mutter in Gambia anzurufen. Ihm überhaupt Hilfe anzubieten ist komisch, weil wir uns als Freunde treffen, nicht als Spender und Empfänger. Um Hilfe bittet er uns nur, wenn er sich gar nicht anders zu helfen weiß, und dann ist sein größtes Bedürfnis das nach rechtlichem Beistand.
Perspektiven geben
Wenige der Menschen, die wir seit Jahren begleiten, können eine Erfolgsgeschichte erzählen. Dass sie ihre negativen wie positiven Erlebnisse mit uns teilen, hat etwas mit Vertrauen zu tun, das wir uns über die Jahre erworben haben. Wenn wir Bekannte aus Sizilien wiedersehen und sie uns auf den neuesten Stand bringen, geht es nicht darum, dass wir ihnen etwas schenken könnten. Das Wichtige ist, dass jemand zuhört, der ihre Geschichte schon kennt und der tatsächlich wissen will, wie es weitergeht. Ihnen vielleicht einen Rat geben kann.
An diesen langjährigen Beziehungen zeigt sich, dass es nicht nur die Sachspenden sind, die langfristig nachwirken, sondern gerade die Zeit, die wir bei jeder Fahrt in Begegnungen investieren. Als wir Fahid kennenlernten, war er uns gegenüber sehr skeptisch. Wir kämen ja sowieso nicht wieder, sagte er zu uns, als wir uns von ihm verabschiedeten. Viele Hilfsorganisationen würden so arbeiten, haben wir seither immer wieder gehört. Auch Journalist*innen stehen in dem Ruf, aus einer Person einmal ihre tragische Geschichte herauszuquetschen und dann nicht wieder von sich hören zu lassen.
Die Situation von geflüchteten Menschen in Sizilien und ganz Europa lässt sich nicht aus dem Moment heraus begreifen, sondern erst über eine gewisse Zeitspanne hinweg. Was wir also selbst durch Bekanntschaften erfahren und mit langjährigen Kontakten zu Helfenden in Sizilien abgleichen, das formt auch die Arbeit des Projekt Seehilfe e.V. Nach unserer Überzeugung nehmen wir die Menschen dort nur dann Ernst, wenn wir ihnen auch zwischenmenschlich eine Perspektive in Europa geben. Gerade obdachlose Geflüchtete in Sizilien leben oft ein Leben abseits der Weißen Bevölkerung.
Nach zehn Minuten mit Lambert entschuldigt er sich dafür, dass er uns so lange aufgehalten habe, wir wollten doch bestimmt einkaufen. Als wir sagen, dass wir nichts einzukaufen haben, und nur seinetwegen da seien, hat er Tränen in den Augen. Er erzählt uns ganz gelöst, was es für ihn bedeutet, dass wir uns an ihn erinnern können und dass wir gekommen sind, um ihn zu besuchen.
*Die Namen wurden durch Projekt Seehilfe e.V. geändert.
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